Quelle: Annette Schleinzer „Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe“ und Biografie-Teile im GrExiA-Übungsbuch „Gott einen Ort sichern"
„Du lebtest, und ich wusste es nicht“ – so beginnt eines der Gebete von Madeleine Delbrêl. Staunen und Dank kommen darin zum Ausdruck im Rückblick auf das, was ihr mit 19 Jahren widerfahren ist: eine überwältigende Gottes-Erfahrung. Diese Erfahrung markiert eine Wende, die ihrem weiteren Leben seine Ausrichtung gibt.
Madeleine, wie sie sich selbst unkompliziert – ohne Familiennamen – meist vorstellte, kommt am 24. Oktober 1904 in einer kleinen südfranzösischen Stadt zur Welt. Aufgewachsen in einem liberalen, religiös indifferenten Elternhaus, wird sie in ihrer Jugend zur erklärten Atheistin. Schon früh fällt ihre künstlerische und intellektuelle Begabung auf. Bereits mit 16 Jahren studiert sie Philosophie an der Pariser Sorbonne und belegt Kurse in verschiedenen Kunst-Sparten. Sie schreibt Gedichte und erhält dafür einen bedeutenden französischen Literaturpreis. Doch auf ihre leidenschaftliche Frage nach dem Sinn des Lebens findet sie letztlich keine Antwort.
Eine tiefe Krise und die Begegnung mit jungen Christ:innen leiten eine Wende ein. Madeleine schreibt rückblickend: „Wenn ich aufrichtig sein wollte, durfte ich Gott nicht so behandeln, als ob er ganz gewiss nicht existierte. Ich wählte deshalb, was mir am besten meiner veränderten Perspektive zu entsprechen schien: ich entschloss mich zu beten.“
Und berührend beschreibt sie diesen Prozess weiter: „Vom ersten Mal an betete ich kniend, erst noch aus der Furcht vor dem Idealismus. Ich tat es an jedem Tag und an vielen andern Tagen, ohne auf die Uhr zu blicken. Seitdem habe ich lesend und kniend Gott gefunden. Aber betend habe ich geglaubt, dass Gott mich gefunden hat, dass er lebendige Wahrheit ist, die man lieben kann, wie man eine Person liebt.“
Am 29. März 1924, dieses Datum erwähnte Madeleine wie ihren Geburtstag, hat sie eine tiefe Gotteserfahrung, die ihr weiteres Leben bestimmt. Noch in ihrem letzten Vortrag, kurz vor ihrem überraschenden Tod im Oktober 1964, sagt sie: „Ich bin von Gott überwältigt worden und bin es immer noch.“ Nach ihrem Tod finden Freundinnen von ihr in ihrem Messbuch einen Zettel, der sich in seinem Inhalt auf dieses Erlebnis bezieht. Es ist das Zeugnis für ihr weiteres Leben. In Grossschrift schrieb sie:
ICH WILL DAS, WAS DU WILLST
OHNE MICH ZU FRAGEN ob ich es kann
OHNE MICH ZU FRAGEN ob ich Lust darauf habe
OHNE MICH ZU FRAGEN ob ich es will.
Nach dieser radikalen inneren Wende denkt sie zunächst daran, in ein Kloster einzutreten. Sie verwirft diesen Gedanken aus Sorgen um ihre Eltern, welche sie – wegen derer schwierigen Ehe – sie lebenslang belastete. Stattdessen sucht sie Anschluss in der Pfarrei ihres Pariser Wohnviertels und engagiert sich als kirchliche Pfadfinderinnen-Führerin. In einem Bibelkurs für junge Frauen erwächst mehr und mehr die Sehnsucht nach einer Lebensgemeinschaft von Laien im Geist des Evangeliums – ohne Gelübde und ohne Klausur, mitten unter den Menschen in einer Pariser Banlieue.
Madeleine verzichtet auf eine vielversprechende künstlerische Laufbahn und beginnt eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin. Diese Entwicklung von einem ästhetisch-künstlerischen Interesse zu einem sozialen Engagement bezeichnete Madeleine selbst als „Explosion des Evangeliums“, bei der die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten für sie zu einer Einheit – zu einer „indivisible amour“, zu einer unteilbaren Liebe – zusammenschmolzen. Mit zwei Gefährtinnen bricht sie 1933 nach Ivry auf – einer Arbeiterstadt südlich von Paris. „Ivry“, schreibt Madeleine, „war meine Schule angewandten Glaubens“. Ivry war eine Industriestadt mit Lärm und Qualm aus nicht weniger als 300 Fabriken der Metallverarbeitung und der Chemie und einem stark wachsenden Proletariat mit ca. 50‘000 Einwohner:innen. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren katastrophal. Ivry war auch die erste französische Stadt, die kommunistisch regiert war. In diesem Milieu, das der Kirche unzugänglich war, wollten die drei jungen Frauen durch ihre Lebensgemeinschaft und ihr Wirken ein christliches Zeugnis mitten unter der Arbeiterbevölkerung geben. In der Rue Raspail Nr. 11 beziehen sie ein einfaches Reihenhaus, ein „Haus der offenen Tür“, gleich neben dem Rathaus, auf dem die rote Fahne wehte. Wer immer Rat und Tat suchte, wurde in der „Charité de Jésus“, wie die Frauen ihre Gemeinschaft nannten, aufgenommen. „Komm, wir gehen zu Madeleine“, das wurde zu einem geflügelten Wort weit über Ivry hinaus.
Zeitlebens engagiert sich Madeleine auch in verschiedenen sozialen und politischen Projekten und setzt sich für politisch Verfolgte ein. Sie ist davon überzeugt, dass Christ:innen zu prophetischer Kritik aufgerufen sind, wenn Unrecht geschieht. Denn, so schreibt sie einmal: „Christ sein heisst nicht, denken, erfinden, sich etwas einbilden, sondern reden und handeln: reden, um zu sagen, was Gott zum Weitersagen aufgetragen hat, handeln, um zu tun, was Gott gesagt hat, das wir tun sollen.“
Über dreissig Jahre lang – bis zu ihrem Tod – lebt Madeleine in Ivry. Sie arbeitet dort als Sozialarbeiterin, zunächst im kirchlichen Dienst, dann im Rathaus von Ivry, Seite an Seite mit den führenden Männern der Kommunistischen Partei. Ihre wachsende Lebens- und Glaubens-Gemeinschaft, die „Charité“, beschreibt sie in einem Brief einmal so: „Wir sind echte Laien, die keine andern Gelübde haben als ihr Taufversprechen. Wir versuchen, als Laien die Tugenden des Evangeliums zu leben. Die Arbeit, die wir verrichten, hat keine Bedeutung an sich. Wir haben keine besondere Spiritualität und der Lebensstil der Gruppe ist sehr einfach. Dort, wo wir sind, Christus zu sein: Das könnte für uns eine Zielformulierung sein.“
1946 gibt Madeleine den Beruf zugunsten der Gemeinschaft auf. Sie inspiriert und begleitet als Verantwortliche die Frauengruppe, sie führt den Haushalt und empfängt die zahlreichen Gäste. Daneben verarbeitet sie ihre Erfahrungen als Christin in einer atheistischen Umgebung in zahlreichen Meditationen, Gedichten und Gelegenheitsschriften, die in ihrem Freundeskreis kursierten. 1957 erscheint ihr Buch „ville marxiste, terre de mission“ („Auftrag eines Christen in einer Welt ohne Gott“). Darin wirbt sie um Verständnis für diejenigen, die keinen Zugang zum Glauben mehr haben.
Herausgefordert durch das atheistische Umfeld in Ivry, beschreibt sie die Vertiefung und Schärfung ihres Glaubens als zweite Konversion. Kraft dieses Glaubens ist sie durchdrungen, Jesus Christus „lebendig werden zu lassen in einer Welt, in der er unbekannt ist“, wie sie selber schrieb.
Durch ihre Texte wurde Madeleine vor allem in denjenigen kirchlichen Kreisen bekannt, welche nach neuen Wegen der Evangelisierung Frankreichs suchten. Zum Beispiel bei den Arbeiterpriestern. Mit vielen von ihnen verband sie eine tiefe Freundschaft. In ihren letzten Lebensjahren wurde sie immer häufiger auch von Bischöfen um Erfahrungsberichte gebeten – bis hin zur Bitte um Mitarbeit bei den Vorbereitungen des 2. Vatikanischen Konzils.
Als Madeleine Delbrêl mit 60 Jahren ganz unerwartet stirbt, hinterlässt sie trotz allem nicht viel: ihr Buch, einige Texte und einen überschaubaren Freundeskreis. Doch die Ausstrahlung ihrer Botschaft begann. Madeleine Delbrêl gilt heute als Pionierin einer christlichen Existenz in einer säkularisierten Welt, als „Mystikerin der Strasse“ – als eine Frau, die mit ihrer Existenz bezeugte, dass es auch heute möglich ist, aus der Kraft des Evangeliums heraus zu leben und die Welt mitzugestalten.