Die 30-tägigen Exerzitien sind eine Schule des Hörens auf Gott
Der geistliche Übungsweg der grossen Exerzitien entspringt der Erfahrung von Ignatius von Loyola (1491-1556) in einer tiefen Orientierungskrise. Ihn treibt dabei die Frage «Welchen Weg will Gott mit mir gehen?».
Durch geistliche Lektüre, Meditation und Gebet kommt Ignatius in eine intensive Begegnung mit dem Leben Jesu. Dadurch spürt er immer besser, was für seinen eigenen Weg stimmig ist und was nicht. Genauso nehmen Übende in der Meditation des Wortes Gottes – wie Ignatius von Antiochien es im zweiten Jahrhundert ausdrückte – «Gottes Melodie in sich auf». Diese Melodie weckt Resonanz im menschlichen Herzen, welche es stets zu prüfen gilt. Die Übenden nehmen in Stille und Gebet immer genauer wahr, was sie innerlich bewegt; was sie auf Gott und auf ein wirklich erfülltes Leben hin- und was wegführt. Die Unterscheidung der Geister kann «greifen». Entscheidungen können reifen. Es geschieht ein Prozess, in dem die Begleitung durch eine in geistlichen Dingen erfahrene Person unerlässlich ist.
Die Exerzitien beschreiben in der von Ignatius intendierten Form einen pädagogischen Bogen von 30 Tagen, den die Übenden in vier aufeinanderfolgenden Phasen durchleben. In der gegenwärtigen Exerzitienliteratur wird die Dynamik dieses Prozesses oft auch in fünf Phasen verstanden. Die Grundzüge:
1. Fundamentsphase
Zum Einstieg geht es darum, sich bewusst zu werden über Anfang und Ziel des Lebens. Anhand der Meditation von biblischen Texten vertieft sich in den Übenden die Dankbarkeit einem Gott gegenüber, der sie von Anfang an geliebt und ihnen das Leben geschenkt hat, der ihnen Halt und Orientierung gibt.
2. Krisenphase
In dem Mass, wie ein Mensch sich geliebt weiss, wächst Vertrauen. Und wo Vertrauen ist, kann er auch Dunkles und Unfreies und damit seine ganze Wahrheit zulassen. In der Stille zeigen sich störende Lärmquellen und Missklänge. Verletzungen und Ängste, Fixierungen und Brüche. Auch schuldhafte Erfahrungen können behutsam aufgespürt, benannt und losgelassen werden. Solche Erkenntnis geschieht nicht in kühler Selbstanalyse, sondern im Raum eines barmherzigen Gottes, der in Gestalt von Jesus Christus sicht- und berührbar geworden ist. Er heilt, vergibt und eröffnet neue Perspektiven.
3. Nachfolge- und Entscheidungsphase
Die unbedingte Zuwendung Jesu zu uns in unserer Grösse und Armseligkeit hat für Übende etwas Verlockendes. In dieser Liebe vernehmen sie eine Einladung, einen Ruf. Es ist, in einem Bild von Teresa von Avila, wie das «zarte Pfeifen des Hirten», das die Seele unmerklich anzieht, Jesus tiefer kennenzulernen, ihn zu lieben und ihm nachzufolgen. Dieser Pfeifenklang ist der Orientierungspunkt für den nächsten Exerzitienschritt, der im Grunde darin besteht, das ganze Leben Jesu von der Geburt bis zum Ende zu meditieren. Die Gesinnung Jesu und die Freundschaft mit ihm ist der Kammerton, von dem sich das Herz prägen lässt. In der zunehmenden Vertrautheit mit diesem Kammerton wachsen innere Freiheit und Entschiedenheit, dem eigenen Leben mit einer unverwechselbaren Melodie selbst Ausdruck zu verleihen. Das Kriterium dieser Melodie zeigt sich in der Stimmigkeit. Erweist sich eine zu treffende Entscheidung als stimmig? Ist sie im Einklang mit dem zart-lockenden Pfeifenton des Hirten? Oder ist die Harmonie «verunreinigt» durch unlautere Motive, schleichende Ängste und vorgefasste Meinungen? Stimmt der Akkord, gleichen sich menschlicher und göttlicher Wille einander an, werden eins. So kann eine wichtige Entscheidung fallen wie eine reife Frucht.
4. Passions- und 5. Auferstehungsphase
In den letzten beiden Phasen betrachten die Übenden Jesu Leiden, Tod und Auferstehung. Verbunden mit Jesus erfahren sie: In den Augen der Welt ist dessen Projekt, den Menschen Gottes Liebe und Barmherzigkeit nahe zu bringen, durch den schmachvollen Kreuzestod radikal infrage gestellt. Doch im Geheimnis der Auferstehung vollziehen die Übenden gläubig mit, dass selbst in Erfahrungen von Ohnmacht, Scheitern und Tod die Melodie Gottes nicht abbricht. Jesus wird von seinem Vater zu neuem Leben erweckt. Die Liebe bleibt. So sehr das eigene Bemühen auch dazugehört, selbst in Anfechtung und Krise dürfen wir der Treue Gottes gewiss sein. Die getroffene Entscheidung, die Berufung ist und bleibt Werk Gottes.
Der Exerzitienprozess mündet in seinen letzten Tagen in eine Übung, welche Ignatius «Betrachtung, um Liebe zu erlangen» nennt. Sie geht dem Geheimnis Gottes auf den Grund: Er hat sich in seiner Barmherzigkeit und Liebe vorbehaltlos an uns und die Welt verschenkt, sich danach gesehnt, in allem und durch alles hindurch gegenwärtig und wirksam zu sein. Diese Sicht ist eine Einladung an Übende, sich selbst grossherzig zu verschenken im Dienst am Leben – nicht aus eigener Kraft, sondern in Verbundenheit und im Einklang mit Gott, der sich in allem suchen und finden lässt.